Tiberius Rohstoff-Research: Marktkommentar Juni 2009

Die Rohstoffmärkte müssten einem haussierenden Aktienmarkt nicht zwingendermaßen nachfolgen. Im ersten Halbjahr 2009 verliefen die Kursbewegungen beider Anlagesegmente weitgehend synchron. Insbesondere die Industriemetalle verhielten sich wie eine Call-Option auf die internationalen Aktienmärkte. Die physische Nachfrage nach Industrierohstoffen läuft den Frühindikatoren üblicherweise um 4-6 Monate nach. Momentan gibt es mit Ausnahme der durch das chinesische Konjunkturprogramm verursachten Sondereffekte bei Metallen keine Evidenz für eine Wiederbelebung der physischen Nachfrage der industrienahen Rohstoffe. Das fiskalpolitisch bedingte Auffüllen der chinesischen Lager scheint mittlerweile abgeschlossen, dies zumindest signalisiert der deutliche Rückgang der Preisaufschläge der Shanghaier Börse gegenüber der London Metal Exchange.
Über die Sommermonate könnte bei den Industrierohstoffen also eine “saure Gurkenzeit“ anstehen, bevor im Herbst der von den Frühindikatoren signalisierte Konjunkturaufschwung greift und die Lager in den westlichen Industriestaaten wieder aufgefüllt werden. Insbesondere die Basismetalle scheinen reif für eine weitere Korrektur, während der Preisverfall bei Energie- und Agrarrohstoffen bis zum 9. Juli bereits so stark ausgeprägt war, dass weitere Kursverluste nicht mehr zu erwarten sind. Viele Märkte in diesem Bereich weisen ein Marktdefizit auf, obwohl die Konjunktur noch nicht wieder angezogen hat. Sollte sich die Belebung der physischen Nachfrage im vierten Quartal wie erwartet einstellen, werden die Preise dieser Rohstoffe unserer Ansicht nach stark anziehen. Wir halten an dem im Kapitalmarktausblick 2009 ausgegebenen Preisziel von 290 Punkten im DJUBS Commodity Index Total Return fest. Vom heutigen Kursniveau (Schlusskurs 8. Juli) entspräche das einem Plus von ca. 28%.

III Relative Trends im Rohstoffsektor: Extrembewertungen
Das herausstechende Merkmal der Rohstoffmärkte in den letzten Monaten war nicht die absolute Kursbewegung der Rohstoffindices. Diese verlief weitgehend nach Plan (s.o.). Hingegen waren die relativen Performanceunterschiede in dieser Zeit so groß, dass in vielen Rohstoffsektoren extreme Bewertungsniveaus erreicht wurden. Für den aktiven Manager bieten sich derzeit ungewöhnlich viele, klar ausgeprägte Trade-Ideen. Wir haben uns deswegen entschlossen, von unserem üblichen Vorgehen an dieser Stelle - der Kommentierung der Marktperspektiven der einzelnen Rohstoffe, gegliedert nach Rohstoffsektoren - abzuweichen und stattdessen die Bewertungsunterschiede zwischen den Rohstoffen sektorübergreifend zu analysieren und zu Trade-Ideen, die in der Allokation der Fonds umgesetzt sind, zu verdichten.
Beispiel 1: Energiesektor: Erdöl gegen Erdgas
Der Kassapreis für Rohöl der Marke WTI hat seinen zyklischen Tiefpunkt im Februar 2009 bei ca. 35 USD je Barrel erreicht und notiert aktuell etwas über 60 USD je Barrel (entspricht ca. 11,5 USD je mmBtU). Hingegen notiert der Kassapreis für Nymex Erdgas in den ersten Julitagen immer noch in unmittelbarer Nähe seines im Februar markierten Tiefpunktes bei ca. 3,3 USD je mmBtU. Das Preisverhältnis beider Energieträger ist dadurch auf einen Faktor von mehr als 3 angestiegen. Die seit 1993 etablierte Handelsspanne des Ratios zwischen 0,5 und 2,5 wurde nach oben durchbrochen.

Aus dem Preisverhältnis zu schließen, dass Erdgas gegenüber Rohöl unterbewertet sei, leitet aber in die Irre. Der amerikanische Erdgasmarkt wies in 2008 noch ein Angebotswachstum von in der Spitze 4% per annum auf. Laut den jüngsten verfügbaren Monatsdaten des amerikanischen Energieministeriums lag die Erdgasproduktion im April 2009 um rund 2,2% höher als im gleichen Vorjahresmonat. Ausschlaggebend für dieses Wachstum sind die neuen Erdgasfelder in Schiefergestein (shale gas), die in den USA in 2008 vermehrt erschlossen wurden. Zwar gehen die Bohrungen nach neuen Erdgasquellen in diesem Bereich auch zurück, dafür steigt die Effizienz der Bohrungen, so dass eine Angebotsreduktion momentan nicht in dem Maße erfolgt, das nötig wäre, um den Nachfragerückgang aufzufangen. Bei Rohöl hingegen hat die OPEC in den letzten Monaten dem Markt rund 3 Mio. Barrel pro Tag (mb/d) entzogen. Der globale Rohölmarkt dürfte sich dadurch an der Schwelle zum Defizit befinden, obwohl die Nachfrage nach Rohölprodukten noch nicht wieder angezogen hat.
Durch die unterschiedliche Angebotsdynamik ergaben sich auch bei den US-Überschusslagerbeständen in Relation zum saisonalen 5-Jahresschnitt unterschiedliche Tendenzen. Während die US-Überschusslagerbestände bei Rohöl dank sinkender Importe (OPEC) zuletzt fielen, steigen die US-Erdgaslagerbestände immer weiter über ihre saisonal gerechtfertigte Norm an. Abhilfe schaffen könnte eine anhaltende Heißwetterperiode, die die Erdgasnachfrage aufgrund eines erhöhten Elektrizitätsbedarfs (Klimaanlagen) nach oben triebe oder eine ausgeprägte Hurrikan-Saison, die Angebot vom Markt nähme. Für beide Ereignisse gibt es im Moment keinerlei Evidenz. Die aus dem Elektrizitätsbedarf von Klimaanlagen induzierte Erdgasnachfrage verläuft auf einem durchschnittlichen Pfad.
Sowohl bei Erdgas als auch bei Rohöl drohen in den kommenden Monaten erhebliche Roll-Verluste. Der Dezember 2009 Öl-Kontrakt steht mit 64 USD je Barrel um rund 6,5% höher als der in wenigen Tagen auslaufende August-Kontrakt. Bei Erdgas ist der Dezember-Kontrakt 2009 mit 5,15 USD je mmBtU um rund 50% (!) höher gepreist als der August-Kontrakt. Bei Rohöl besteht angesichts zurückgehender Überschusslagerbestände, die Chance, dass die Terminkurve allmählich von Contango auf Backwardation dreht. Der für das zweite Halbjahr erwartete Roll-Verlust wird unserer Ansicht nach nur etwas höher als 0% sein. Bei Erdgas siedeln wir die Wahrscheinlichkeit, dass der Kassapreis, angesichts der Angebots- und Nachfragedynamik der nächsten Monate, zu Beginn des Winters immer noch unter 4 USD je mmBtU steht, als sehr hoch an. Roll-Verluste von 40% und mehr sollten einkalkuliert werden.
Fazit: Aus fundamentaler Sicht ist ein Trade long Erdgas, short Rohöl nicht herzuleiten. Aus technischer Sicht ist der Erdgaspreis so stark überverkauft, dass negative Fundamentaldaten eingepreist scheinen. Wir sind für die Kontrakte August bis Oktober 2009 neutral eingestellt, während wir mittelfristig den Dezember-Kontrakt, der vermutlich Roll-Verluste von mehr als 40% aufweisen wird, noch short sind. Die Entwicklung des Rohölpreises sehen wir nach wie vor positiv, da ein globales Marktdefizit und fallende US-Lagerbestände den Markt stützen sollten. Zum Jahresende rechnen wir mit 75-80 USD je Barrel.