Stark gespaltener Gasmarkt (Update)
15.08.2012 | Eugen Weinberg (Commerzbank)
Dies ist eine Aktualisierung eines Rohstoffe kompakt vom April, welche um die neuen Entwicklungen am US-Markt ergänzt ist.
Die Preisunterschiede am internationalen Gasmarkt warenwohl niemals zuvor so hoch wie aktuell. Die Preise am amerikanischen Marktdürften aufgrund der Produktionserfolge bei Schiefergas bis zur Fertigstellung von LNG-Exportterminalsin gut drei Jahren niedrig bleiben. Außerhalb des US-Marktes bleiben die Spotpreise durch den hohen Importsog Japans und dem tendenziell stark steigenden Gasbedarf Chinas gut unterstützt. Der traditionell durch langfristige Lieferbeziehungen geprägte kontinentaleuropäische Gasmarkt kann sich dem Strukturwandel nicht entziehen.
Die Divergenzen am internationalen Gasmarkt haben Bestand: derzeit kostet Erdgas in Japan, das wegen der abgelegenen (Insel-) Lage und der Erdbebengefahr kein Erdgas über Pipeline bezieht, sondern auf Importe von verflüssigtem Gas (LNG) angewiesen ist, fast sechsmal soviel wie in den USA. Doch auch die Erdgaspreise in Europa liegen dreimal so hoch wie in den USA, wobei der deutsche Grenzübergangspreis andeutet, dass in Kontinentaleuropa in der Regel 30% mehr für Gas gezahlt wird als auf dem Spotmarkt in Großbritannien (Grafik 1).
Der börsengehandelte US-Erdgaspreis spiegelt in erster Linie die lokale Angebots- und Nachfragesituation in den USA wider. Hier ist es vorallem die massive Ausweitung des Angebots, welche den Preis unter Druck gesetzt hat. Allein im vergangenen Jahr stieg die US-Erdgasproduktion um knapp 8% und damit gut dreimal so stark wie die Nachfrage.
In Volumina betrachtet war es der stärkste jemals registrierte Anstieg. Hintergrund sind die anhaltenden Produktionserfolge bei Schiefergas. Die USA sind somit auf dem besten Wege, zum Selbstversorger zu werden: Mit knapp 5 Mrd. Kubikfuß waren die täglichen Nettoimporte, welche zum Großteil aus Kanada stammen, im vergangenen Jahr so niedrig wie zuletzt im Jahr 1992. Die Differenz zwischen Produktion und Verbrauch ist von 16% der Produktion im Jahr 2007 auf gut 5% im Jahr 2011 geschrumpft. Diese Entwicklung hat die US-Erdgaslagerbestände kräftig steigen lassen.
Die US-Energiebehörde EIA erwartet für 2012 einen Nachfrageanstieg um 4,8% auf 69,8 Mrd. Kubikfuß pro Tag. Denn mit den niedrigen Preisenhat die bislang eher aus operativen Gesichtspunkten attraktive gasbasierte Stromproduktion auch an preislicher Wettbewerbsfähigkeit gewonnen. So hat sich der Preisvorsprung der kohlebasierten Stromproduktion gegenüber Gas fast eingeebnet. Die Nachfrage nach Erdgas zur Stromerzeugung soll der EIA zufolge im Jahr 2012 um 22% steigen und damit den niedrigeren Bedarf bei Wohnungen und Gewerbe mehr als ausgleichen. Dem höheren Verbrauch stand bis zuletzt eine steigende Produktiongegenüber. Angesichts der geringen Rentabilität der Gasproduktion mag dies auf den ersten Blick paradox wirken.
Die EIA erwartet für 2012 einen Anstieg der Produktion um 3,8% gegenüber dem letztjährigen Rekord auf 68,7 Mrd. Kubikfuß pro Tag. Die Bohraktivitäten sind seit Jahresbeginn zwar um 40% eingebrochen. Mit weniger als 500 Bohrungen lagdie Zahl Anfang August 2012 sogar niedriger als in der Rezession 2009 und auf dem tiefsten Stand seit 13 Jahren (Grafik 2). Dass die Produktion dennoch hoch bleibt, erklärt sich zumeinen mit der gestiegenen Effizienz der Bohrungen. Zum anderen fällt Gas vermehrt als Kuppelprodukt der Ölförderung an, denn die Bohraktivitäten im Ölbereich sind massiv gestiegen.
Durch die höhere Produktion von Schiefergas auf dem Land sinkt auch die Bedeutung derGasproduktion im Golf von Mexiko. Diese machte im vergangenen Jahr nur noch 7% der gesamten Produktion aus, verglichen mit 30% im Jahr 2006. Dadurch verringert sich auch die Abhängigkeit der US-Erdgasproduktion von Wettereinflüssen wie der Hurrikansaison.
Der Zeitraum zwischen Januar und Juli 2012 war der wärmste in den ersten sieben Monaten eines Jahres in den USA seit Beginn der Aufzeichnungen.Dies hatte auch Einfluss auf die Lagerbestände. Die höheren Temperaturen führten zu einem geringeren Heizbedarf und damit zu einem unterdurchschnittlichen Lagerabbau währendder Wintermonate.
In der Folge stieg der Lagerüberhang bis Ende März auf 60%. Seit dem Frühjahr ist die Gasnachfrage für den Betrieb der Klimaanlagen deutlich gestiegen. Die US-Erdgasvorräte sind daraufhin seit Anfang April kontinuierlich weniger stark gestiegen als im Durchschnitt der vergangenen fünf Jahre, so dass der Lagerüberhang zuletzt auf weniger als 15% geschrumpft ist. Es gilt zu bedenken, dass die US-Erdgasspeicher derzeit bereits zu 80% gefülltsind. Dieses Niveau wird normalerweise erst Mitte bis Ende September erreicht.
Das Risiko, dass die Kapazitätsgrenze der US-Erdgasspeicher von geschätzt 4,39 Bio. Kubikfuß zu Beginn der Heizsaison im November erreicht wird, ist allerdings deutlich zurückgegangen. Wenn die Lagerbestände von nun an im Einklang mit dem 5-Jahresdurchschnitt steigen, würdegegen Ende der Auffüllphase ein Niveau von 4,1 Bio. Kubikfuß erreicht. Dies wäre allerdings noch immer deutlich höher als das bisherige Rekordniveau von 3,85 Bio. Kubikfuß, welches im letzten Herbst erreicht wurde (Grafik 3).
Begünstigt durch den schrumpfenden Lagerüberhang istder US-Erdgaspreis seit April um mehr als 50% gestiegen, als der Preis ein 10-Jahrestief von weniger als 2 USD je mmBtu markierte. Der starke Anstieg der Netto-Long-Positionen zeigt, dass der Preisanstieg auf mehr als 3 USD je mmBtu teilweise auch von spekulativen Finanzanlegern getrieben wurde (Grafik 18, Seite 6). Da die Erdgasproduktion beim derzeitigen Preisniveau wieder profitabler wird und gleichzeitig die gasbasierte Stromerzeugung an Attraktivität verliert, dürfte sich die Preiserholung nicht fortsetzen.
Erst wenn sich für amerikanische Produzenten neue Absatzmärkte öffnen, dürfte sich der US-Preis dem internationalen Umfeld anpassen. Ein Schritt in diese Richtung ist der Ausbau des Panamakanals, der 2014 fertig sein soll. Dann können die großen LNG-Tankschiffe vom atlantischen zum asiatischen Markt gelangen. Amerikanischen Unternehmen, die sich langfristigen Verträgen zur Abnahme festgelegter LNG-Mengen verpflichtet haben, bietet sich über Reexporte dann die Möglichkeit, von dem hohen Preisniveau am asiatischen Markt zu profitieren.
Darüber hinaus haben sich bereits einige Firmen um Exportlizenzen beworben. Mit dem Bau von Verflüssigungsterminals ist begonnen. Im Jahr 2016 könnten die USA dann zum Nettoexporteur werden. Dazu müssten allerdings auchgesetzliche Vorschriften abgeändert werden, welche derzeit noch den Export von Erdgas ausden USA beschränken.
Konträr dazu sind die Tendenzen in Asien: Rund 60% der globalen LNG-Importe entfallen auf den asiatisch-pazifischen Raum. Japan ist dabei miteinem Marktanteil von gut 30% der größte LNG-Importeur weltweit und dürfte diese Rolle zuletzt weiter gefestigt haben. Weil in Japan zahlreiche Atomkraftwerke nach der Atomkatastrophe von Fukushima vom Netz genommen wurden, wird in der Stromerzeugung verstärkt auf Gaszurückgegriffen. Die LNG-Importe Japans haben in den letzten Monaten massiv angezogen (Grafik 4): In der zweiten Jahreshälfte 2011 lagen diese 17% über dem Vergleichszeitraum des Vorjahres.
Für das im März abgelaufene Fiskaljahr berichtete das japanische Finanzministerium einen Anstieg der LNG-Einfuhren um 17,9% auf einen Rekordwert von 83,2 Mio. Tonnen. Dieser Trend hat sich im ersten Halbjahr 2012 fortgesetzt, wo die LNG-Importe um weitere 2,5% gegenüber den vorherigen sechs Monaten gestiegen sind.
Das hat sich auch in deutlich gestiegenen Preisen niedergeschlagen, die in Japan eigentlich an den Ölpreis gebunden sind. Kurzfristig ist kein Endedes Importsogs zu erwarten. Das wird die Gaspreise in Japan auch weiterhin hoch halten. Hinzu kommt der langfristig stark steigende Erdgasbedarf außerhalb Japans. China ist mit einem Jahresverbrauch von gut 100 Mrd. Kubikmeter mittlerweile der drittgrößte Gaskonsumentder Welt. Innerhalb von zwei Jahren haben sich die chinesischen LNG-Importe auf mehr als 13 Mio. Tonnen pro Jahr verdoppelt (Grafik 4). Bis 2015 soll sich der chinesische Gasverbrauch nochmals verdoppeln, was auf einen weiter steigenden Bedarf an LNG-Importen hindeutet.
Durch die zunehmende Verzahnung der Märkte - der LNG-Handel ist im letzten Jahr um weitere 14% gewachsen und dürfte mit knapp 240 Mio.Tonnen nun rund 10% des weltweiten jährlichen Gasverbrauchs abdecken - beeinflusst dies aber auch die Preise in anderen Regionen. Während im Jahr 2009/2010 durch die Gasschwemme am US-Markt zusätzliches LNG-Angebot auf den europäischen Markt gelangte und dies die Preise vor allem am Spotmarkt, aber indirekt auch in den langfristigen Verträgen drückte, werden die Preise derzeit durch Japans LNG-Importsog unterstützt. Denn während im Jahr 2010 die LNG-Importe der EU um fast 50% gegenüber Vorjahr gestiegen waren, warensie im Verlauf des vergangenen Jahres deutlich rückläufig.
Dennoch: die Strukturen am kontinentaleuropäischen Markt verändern sich derzeit mit hoher Dynamik. Vor allem die langjährigen Lieferbeziehungen mit Russland stehen auf dem Prüfstand. Russland stand vor zehn Jahren für die Hälfte der europäischen Gasimporte. Während die EU-Länder an Russland die Liefersicherheit schätzten, hatte Russland im Gegenzug zahlungskräftige Abnehmer, welche die Bezahlung einer bestimmten Mindestmenge zusicherten ("take-or-pay contract").
Doch das Gleichgewicht der Interessen gerät ins Wanken: in den EU-Ländern tun sich mit dem zunehmenden LNG-Handel neue Importmöglichkeiten auf; hinzu kommen die Liberalisierungsbemühungen innerhalb des EU-Marktes ("Target Modell"). Zudem ist es deklariertes Ziel der EU, den Treibhausgasausstoß zu reduzieren, was mit einem geringen Energie- und damit auch Gasverbrauch einhergehen könnte. Auf der anderen Seite eröffnen sich auch für Russland neue Absatzmöglichkeiten: mit der ersten Verflüssigungsanlage (Sakhalin II-LNG) ist der Export von Erdgas nach Asien möglich. Dass sich die festen Strukturen lösen, zeigt sich nicht zuletzt in der Abweichung des deutschen Grenzübergangspreises vom Schwerölpreis als Proxy fürdie Ölformel (Grafik 5).
Auf einen Blick
© Eugen Weinberg
Senior Commodity Analyst
Quelle: "Rohstoffe kompakt", Commerzbank AG
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