Energie: Ist diesmal alles anders? 2011 und 2008 im Vergleich
16.09.2011 | Eugen Weinberg (Commerzbank)
Die Rohstoffmärkte zeigen sich im aktuellen Marktumfeld überraschend robust. Das weckt Erinnerungen an das Jahr 2008, als der Ölpreis im Sommer trotz deutlich zunehmender Konjunktursorgen zunächst noch Rekordstände markierte, um dann in der zweiten Jahreshälfte dramatisch einzubrechen. Wir zeigen im Folgenden Parallelen und Unterschiede auf und kommen zu dem Schluss, dass die hohen Ölpreise auch in der aktuellen Konstellation fundamental nicht zu rechtfertigen sind. Bis Jahresende dürfte der Brentölpreis auf 100 USD je Barrel nachgeben.
Die starken Verwerfungen an den Finanzmärkten in den letzten Wochen weckt bei vielen die Erinnerung an das Jahr 2008. Auch die Tendenzen am Ölmarkt zeigen Parallelen: Denn wie auch im Sommer 2008 zeigt sich dieser bislang von dem Geschehen an den übrigen Finanzmärkten weitgehend unbeeindruckt. Während die globalen Aktienmärkte gemessen am MSCI World rund 15% niedriger notieren als Mitte Juli, gab der Brentölpreis nur vorübergehend nach und notiert momentan lediglich 3% niedriger als sieben Wochen zuvor. Ist das aktuelle Preisniveau von mehr als 110 USD je Barrel dieses Mal fundamental zu rechtfertigen? Oder wird der Ölpreis wie in der zweiten Jahreshälfte 2008 einbrechen?
Wir stellen die Argumente für den hohen Ölpreis auf den Prüfstand.
These:
Bislang befinden sich weder die USA noch Europa in einer Rezession, sondern lediglich in einer Phase schwachen Wachstums.
Stimmt, aber angesichts der Dynamik, mit der sich die Stimmungsindikatoren diesseits und jenseits des Atlantiks in den letzten Monaten verschlechtert haben, kann ein Abgleiten in eine Rezession nicht ausgeschlossen werden. Unsere Volkswirte erachten die Abwärtsrisiken für die Konjunktur als beträchtlich.
These:
Die globale Ölnachfrage bleibt robust, weil sie immer weniger von der Konjunktur in den Industrieländern und immer mehr von den Tendenzen in den Schwellenländern bestimmt wird.
In der Tat war der steigende Verbrauch in den Schwellenländern bis zuletzt die Triebfeder für die weltweite Ölnachfrage, während die Nachfrage in den Industrieländern für den globalen Ölmarkt an Bedeutung verloren hat. Auch wenn deren Anteil in den letzten 10 Jahren um 10 Prozentpunkte geschrumpft ist, bestreiten diese immer noch mehr als die Hälfte des weltweiten Verbrauchs. Ist die Nachfrage weniger zyklisch als in der Vergangenheit? Tatsache ist, dass je höher das Einkommen einer Volkswirtschaft ist, desto geringer reagiert die Ölnachfrage auf Veränderungen des Einkommens. Heute beispielsweise gilt für die USA die Daumenregel, dass die Ölnachfrage ceteris paribus im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt leicht unterproportional wächst. Früher, im Zeitraum 1966 bis 1990, lag die Elastizität bei 1,2.
Hinzu kommt eine tendenziell fallende Ölintensität, d.h. je produzierter Einheit Bruttoinlandsprodukt wird immer weniger Öl benötigt. Die Suche nach Effizienzgewinnen wurde durch die steigenden Preise verstärkt. Die amerikanische Energieagentur EIA bezifferte, dass allein aufgrund des geringeren Spritverbrauchs der Autos die Benzinnachfrage in den USA zuletzt um 1% p.a. gesunken sei.
Unter Berücksichtigung der stärkeren Einkommenselastizität in den Schwellenländern haben die großen Energieagenturen bereits damit begonnen, ihre Prognosen für die Ölnachfrage nach unten zu nehmen: die Internationale Energie Agentur (IEA) beispielsweise hat in dieser Woche das Nachfragewachstum für das laufende Jahr um 160 Tsd. Barrel pro Tag und für das kommende um weitere 190 Tsd. Barrel pro Tag auf 1,4 Mio Barrel pro Tag nach unten revidiert. Darüber hinaus bezifferte die IEA in einer Sensitivitätsanalyse, dass sofern das Weltwirtschaftswachstum um ein Drittel niedriger ausfallen wird als bislang angenommen, die Ölnachfrage im kommenden Jahr nur noch um 400 Tsd. Barrel pro Tag steigen würde.
These:
Kein Ölpreisschock
Der rasante Ölpreisanstieg im Jahr 2008 war durchaus eine starke Belastung für die Realwirtschaft. Aber auch in der jetzigen Konstellation ist das Ölpreisniveau eine Hypothek: denn zum einen notieren die Brentölpreise bereits seit sieben Monaten nahezu ununterbrochen oberhalb der zuvor noch als kritisch für die Konjunktur angesehenen Marke von 100 USD je Barrel und damit bereits länger als im Jahr 2008. Legt man einen Durchschnittspreis von 105 USD je Barrel für das laufende Jahr zugrunde, dürften die Kosten für den Ölverbrauch bezogen auf die Weltwirtschaft ähnlich hoch sein wie 2008 (Grafik 2). Zum anderen sind in einigen Schwellenländern die Subventionen am Markt für Mineralölprodukte gekürzt und die Preise liberalisiert worden. Im Zuge dessen atmen diese nicht nur stärker mit den Preisschwankungen am globalen Ölmarkt, sie haben auch ein deutlich höheres Niveau. In China beispielsweise müssen die Autofahrer mittlerweile 40% mehr für Benzin bezahlen als 2008 und damit im übrigen mehr als in den USA.
These:
Nicht nur Öl, sondern auch die Industriemetalle stemmen sich gegen den Abwärtstrend.
Tatsächlich passt dies nicht zum Muster des Jahres 2008, denn damals waren die Industriemetalle im Einklang mit den Aktienmärkten bereits zur Jahresmitte kräftig unter Druck geraten (Grafik 3). Für die Industriemetalle ist das Argument aber zugkräftiger, dass der wichtigste Absatzmarkt, China, kaum zur Schwäche neigt, weil im Durchschnitt rund 40% der globalen Metallnachfrage auf China entfällt. Schrumpfende Lagerbestände vor Ort deuten zudem auf Angebotsprobleme hin.
These:
Die politische Instabilität in wichtigen Förderregionen rechtfertigt eine hohe Risikoprämie. Dies gilt umso mehr, als dass die frei verfügbaren Kapazitäten bereits durch die Ausfälle in Libyen deutlich geschrumpft sind.
In der Tat wies die IEA im August 2011 nur noch freie Förderkapazitäten von knapp 4 Mio. Barrel pro Tag aus, während es im Jahr zuvor fast 6 Mio. Barrel pro Tag waren. Darüber hinaus bestätigt das jüngste Öl-Embargo gegen Syrien das Risiko von Lieferausfällen in Folge von politischen Unruhen. Dennoch ist das Argument insofern zu relativieren, als dass das Niveau der frei verfügbaren Reserven weiterhin hoch ist: im Sommer 2008 beispielsweise gab es ediglich einen Puffer von 2,3 Mio. Barrel pro Tag (Grafik 4). Zudem dürften die freien Kapazitäten wieder steigen, wenn Libyen an den Markt zurückkommt. Die OPEC rechnet bereits in sechs Monaten mit einer Produktion von 1 Mio. Barrel pro Tag.
These:
Der Rückgang der industriellen Lagerbestände zeigt Knappheit.
In der Tat sind die industriellen Lagerbestände für Rohöl und Mineralölprodukte vor allem in Europa seit Sommer 2010 rückläufig. Denn laut IEA dürfte die Nachfrage im ersten Halbjahr das Angebot überstiegen haben. Die OECD Lagerbestände sind infolgedessen wie 2008 unter den Fünf-Jahresdurchschnitt gefallen (Grafik 4). Doch die Tendenzen drehen: das Nachfragewachstum verlangsamt sich und das Angebot steigt. Die Situation dürfte sich rasch auflösen.
These:
Angesichts des geringen spekulativen Engagements ist ein Rückschlag eher unwahrscheinlich.
Tatsächlich sind spekulativen Finanzanleger derzeit nicht überaus optimistisch: die Netto-Long Positionen für WTI liegen mit knapp 155 Tsd. Kontrakten gut 40% niedriger als im Jahreshoch im Frühjahr (Grafik 6, S.5). Allerdings dürften die Investoren aufgrund der steigenden Terminkurve bei WTI zurückhaltend sein und verstärkt in Brent-Futures investieren. Zudem schützen niedrige Netto-Long-Positionen nicht zwingend gegen einen Preisrückgang. Denn auch im Sommer 2008 hatten die spekulativen Anleger ihre Netto-Long Positionen bereits kräftig abgebaut. Dennoch brach in der zweiten Jahreshälfte der Preis um 70% ein. Ende des Jahres waren die Spekulanten mehrheitlich auf der Short-Seite.
These:
Die OPEC-Staaten sind angesichts der im Zuge der Unruhen gestiegenen Sozialausgaben auf hohe Öleinnahmen angewiesen
Das stimmt, allerdings dürften die Alarmglocken der Kartellmitglieder erst bei einem Unterschreiten der Marke von 100 USD je Barrel schrillen. Dann dürften sie allerdings deutlich schneller als in der Vergangenheit Handlungsbereitschaft zeigen. Saudi-Arabien, das den Förderhahn als Ausgleich für Libyens Angebotsausfälle stärker aufgedreht hat, könnte sein Angebot schnell drosseln.
These:
Der Liquiditätsschub einer möglichen weiteren quantitativen Lockerung der US Geldpolitik könnte dem Ölpreis Auftrieb geben.
Könnte sein, aber andere Risikoklassen wie die Aktienmärkte profitieren zur Zeit kaum. Angesichts der Eintrübung des Fundamentalumfeldes ist die Tragfähigkeit einer allein liquiditätsgetriebenen Preisrallye anzuzweifeln.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Gemeinsamkeiten mit dem Jahr 2008 wohl eher überwiegen. Auch wenn die Übertreibung am Ölmarkt keineswegs so stark ist wie im Sommer 2008, erachten wir das derzeitige Ölpreisniveau von über 110 USD je Barrel angesichts der bereits erfolgten Abkühlung der Konjunktur und der sich mit Libyens Rückkehr abzeichnenden Entspannung auf der Angebotsseite als nicht fundamental gerechtfertigt. Wir erwarten bis Jahresende eine Korrektur um gut 10%. Sollte sich die Abschwungsdynamik (wie 2008) noch verstärken und die Welt nicht wie derzeit erwartet an einem „Double-Dip“ vorbeischrammen, dürfte der Preiseinbruch stärker ausfallen. Der größere Handlungsbedarf der OPEC und die höhere Sensitivität der Marktteilnehmer für geopolitische Risiken stellen jedoch eine gute Unterstützung dar.
Auf einen Blick
© Eugen Weinberg
Senior Commodity Analyst
Quelle: “Rohstoffe kompakt“, Commerzbank AG
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